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06.10.05

Konsensus - Ein farbenfroher Abschied vom Mehrheitsprinzip

Von: Friedrich Degenhardt


Testdurchlauf des Konsensverfahrens bei der Sitzung des ÖRK-Zentralausschusses 2005

Wenn sich im nächsten Februar die Delegierten der 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Porto Alegre versammeln, werden sie mit blauen und orangen Karten dem Mehrheitsprinzip im parlamentarischen Stil einen letzten Abschiedsgruß nachwinken. Liegt die Zukunft des Weltkirchenrats in der Entscheidungsfindung nach dem Konsensprinzip?

Der Weltkirchenrat hat die Einführung des Konsensverfahrens beschlossen, und "Tendenzkarten" gehören zu den neuen Methoden auf der 9. ÖRK-Vollversammlung, auf der die Delegierten den Kurs und die Arbeitsschwerpunkte des Weltkirchenrates für die nächsten acht Jahre festlegen werden.

Was bedeutet das für die Handlungsfähigkeit des Weltkirchenrats? - Die Befürworter erwarten eine grundsätzliche Erneuerung der Gesprächs- und Arbeitskultur in der Organisation selbst und in der weltweiten Gemeinschaft der Kirchen. Kritiker fürchten, dass strittige Fragen von nun an unter den Tisch fallen werden, um den Konsens nicht zu gefährden.

"Im Gegenteil", sagt Eden Grace, ÖRK-Zentralausschussmitglied von der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker). "Ich hoffe, dass mehr kontroverse Themen zur Sprache kommen werden. Niemand braucht mehr zu befürchten, dass er durch eine Abstimmung in die Enge getrieben wird."

"Beim Konsensmodell geht es um einen Geist des offenen Zuhörens", sagt Grace, deren Glaubensgemeinschaft bereits seit 300 Jahren Erfahrungen mit Konsensmethoden macht. "Wir sammeln nicht nur einfach Argumente für oder gegen einen Antrag, sondern wir arbeiten auf einen wirklichen Gemeinschaftsgeist hin, im Geiste Christi." Konsensus ist mehr als ein Änderung der Verfahrensregeln. Es geht um eine Gesprächskultur, die allen Beteiligten genug Raum bietet.

"Debatten im parlamentarischen Stil führen zu einer Atmosphäre des 'Dafür oder Dagegen', statt das Einander-Zuhören und kooperatives Denken zu fördern", erläutert Anne Glynn-Mackoul, US-Anwältin und Mitglied des ÖRK-Zentralausschusses aus dem Griechisch-Orthodoxen Patriarchat von Antiochien und dem gesamten Morgenland (USA). In der Vergangenheit habe es beim Weltkirchenrat häufig Minderheitsvoten der orthodoxen Mitgliedskirchen gegeben, da orthodoxe Delegierte der Ansicht waren, dass ihre abweichenden Positionen beim ÖRK zu kurz kämen.

Eden Grace und Anne Glynn-Mackoul waren beide Mitglied der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK, die von der 8. ÖRK-Vollversammlung in Harare (1998) eingerichtet wurde, um auf orthodoxe Bedenken über Ausrichtung und Prioritäten des Weltkirchenrates einzugehen. In ihrem Abschlussbericht machte die Kommission 2002 eine Reihe von Vorschlägen, um der orthodoxen Stimme im ÖRK besser Gehör zu verschaffen.

Eine der Empfehlungen war die Abschaffung von Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip zu Gunsten eines Konsensverfahrens. Im Februar 2005 nahm der ÖRK-Zentralausschuss diesen Vorschlag einstimmig an.

Doch erhält nicht durch das Konsensverfahren jeder einzelne Delegierte der ÖRK-Vollversammlung ein Vetorecht? - "Nein", sagt Eden Grace, "jeder hat das Recht, angehört zu werden. Es gibt aber kein Recht auf Verschleppungstaktik." Auch in Zukunft kann eine Mehrheit von 85 Prozent eine formale Abstimmung einfordern, wenn es gar nicht anders geht. Nur Abstimmungen über Angelegenheiten, die das Selbstverständnis einer Mitgliedskirche in Frage stellen, werden nicht möglich sein.

Konsens bedeutet also nicht zwingend Einstimmigkeit. Eine Minderheitsposition kann auch weiterhin überstimmt werden, wenn sie auf faire Weise angehört worden ist. An Aktivitäten und Programmen, die sich aus solchen Beschlüssen ergeben, muss sich die Minderheit dann nicht unbedingt beteiligen. Dies ist eine Anpassung der Spielregeln an die Realität. Denn auch bisher schon gibt es ÖRK-Programme, an denen sich einige Mitgliedskirchen nicht beteiligen.

<b» Der Konsens will geübt sein</b>

"Wir alle werden noch viel Training benötigen", sagt D'Arcy Wood, ehemaliger Synoden-Vorsitzender in der Unionskirche in Australien, die bereits vor 10 Jahren das Konsensverfahren eingeführt hat. "Das ist kein Lichtschalter, der einfach umgelegt wird", sagt er. "Es erfordert eine Veränderung der Einstellung und Gewohnheiten der Beteiligten."

Ein Handbuch zum Konsensverfahren soll allen Vollversammlungsdelegierten helfen, sich in den neuen Umgang und die neuen Methoden einzufinden. Außerdem wird es ein Training für alle Ausschussvorsitzenden und Berichterstatter geben. Vorbereitungstagungen der Delegierten, wie z.B. die Jugendkonferenz, sind eine weitere Gelegenheit zum Kennenlernen der Methoden. Und alle Delegierten werden zu Beginn der Vollversammlung die notwendigen Einführungen bekommen.

Das neuen Konsensverfahren wird vor allem eine Herausforderung für die jeweiligen Vorsitzenden sein. Zum einen muss jede Sitzung sehr gründliche vorbereiten werden, um die Tagesordnung zu straffen. Zum anderen müssen die Vorsitzenden jeweils sicherstellen, dass auch alle abweichenden Meinungen ausreichend zur Sprache kommen.

Und was passiert, wenn in einem Ausschuss oder einer beschlussfassenden Plenarsitzung die Verhandlungen ins Stocken geraten? - Für diesen Fall sehen die neuen Regeln eine Reihe von Möglichkeiten vor: Das strittige Thema kann vertagt und in kleineren Gruppen weiter verhandelt werden. Die Versammlung kann sich durch Schweigen oder Gebet eine Atempause verschaffen. Ein Bericht kann die unterschiedlichen Positionen aufnehmen. Oder die Versammelten können festhalten, dass eine Einigung zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war.

<b» Blaue und orange Karten als Stimmungsbarometer</b>

Die auffälligste Neuerung werden für die Delegierten der Vollversammlung die "Tendenzkarten" sein. Dazu das Handbuch: Wenn Mitglieder dem Verlauf einer Sitzung mit "Aufgeschlossenheit oder Zustimmung" folgen, können sie dieses der Vorsitzenden durch eine orange Karte signalisieren. "Distanz oder Ablehnung" wird durch blaue Karten signalisiert. Wenn während eines Redebeitrags die Delegierten anfangen, beide Karten in Brusthöhe zu halten, weiß die Vorsitzende, dass eine weitere Debatte nicht mehr hilfreich ist.

Was die Einführung des Konsensverfahrens dem Weltkirchenrat wirklich bringt, lässt sich frühestens nach der Vollversammlung einschätzen. D'Arcy Wood ist allerdings durch seine Erfahrungen in Australien schon jetzt vom Erfolg überzeugt: "Unser Modell ist beweglicher und flexibler. Es bezieht mehr Menschen in die Ausformulierung von Entscheidungen mit ein und führt dadurch zu wesentlich größerer Zufriedenheit. Mehr Menschen haben das Gefühl, dass dies ihre eigenen Beschlüsse sind." Wood berichtet, dass sich in Australien dadurch viel mehr Menschen aktiv an der Umsetzung von Entscheidungen beteiligen würden.

Und genau dies möchte der Weltkirchenrat auch in den Entscheidungsprozessen in Porto Alegre und darüber hinaus erreichen. Die Vielfalt der Beiträge soll die Kirchen nicht trennen oder spalten, sondern sie gegenseitig und in ihrer Gemeinschaft bereichern.

[930 Wörter]

(*) Friedrich Degenhardt ist Theologe und Journalist (DJV) und arbeitet z.Zt. als Sondervikar der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (Deutschland) in der Pressestelle des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf.